Die Weihnachtsmäuse-Invasion
An meinem 7. Geburtstag – das war der 29. August 1950 – bekam ich endlich jenes Geschenk, das ich mir schon so lange sehnlichst gewünscht hatte: Zwei winzig kleine, junge weiße Mäuslein in einer hohen Pappschachtel mit Sägespänen!
Meine Eltern und ich wohnten damals in einer ebenerdigen Hausbesorger-Wohnung am Reithofferplatz 14 in Wien 15, die aus einem Schlafzimmer, einer Küche und einem Kabinett bestand. Die zwei Schlafzimmerfenster waren so niedrig, dass ich von Frühling bis Herbst mehrmals täglich dort aus- und einstieg. Die Küche und das Kabinett hatten nur Fenster zu einem stockfinsteren Gang, die mit dicken, senkrechten Eisenstangen gesichert waren.
90 Prozent unseres Lebens spielten sich in der kleinen Küche ab. Das finstere Kabinett, in das kaum frische Luft kam, benutzten wir schon lange nur mehr als Rumpelkammer, in die nun auch meine zwei kleinen, weißen Mäuse in ihrer Schachtel einziehen duften.
Schon nach rund 4 Wochen stellte sich heraus, dass die zwei Mäuse ganz offenbar verschiedenen Geschlechts waren. Denn woher kämen sonst die 14 winzig kleinen rosa Mäusebutzis? So wie es aussah, hatte niemand – auch meine Eltern nicht – mit so etwas gerechnet. Weil ich mich aber von Anfang an dazu verpflichtet hatte, die Pflege meiner kleinen Freunde selbst zu erledigen, ließen meine Eltern die ungeplante Mäusevermehrung stillschweigend zu.
Sie hatten wohl gedacht, dass ich ohnehin von selber aufgeben würde, sobald mir die Arbeit mit dem Füttern und Saubermachen zu viel werden würde. Doch so schnell gab ich nicht auf – und auch dann nicht, als sechs Wochen später der zweiter Wurf der nun schon acht Pärchen folgte.
Und obwohl sich nun schon rund 50 weiße Mäuse in der nun schon
viel größeren und höheren Schachtel tummelten, schritten meine Eltern nicht
ein. „Jetzt wird er sicher bald aufgeben.“ dachten sie offenbar, doch sie
irrten sich. Als aber dann der dritte Wurf kam, wurde auch mir etwas mulmig. Auch
der Spaß, den ich ursprünglich hatte, artete immer mehr in richtige Arbeit aus. Als wir dann kurz vor Weihnachten schon über 100 weiße Mäuse
hatten, ereignete sich folgendes:
Mein Vater hatte eine riesige, wunderschöne Tanne herangeschleppt, die fast bis an die Decke unseres 3 ½ Meter hohen Schlafzimmers reichte. Fast den ganzen 24. Dezember lang war er bei verschlossener Tür damit beschäftigt, den Mega-Weihnachtsbaum mit weißen und rosa Windbäckereinen, eingewickelter Schokolade, Kugeln, Kerzen, Girlanden und Lametta zu schmücken.
Dann folgte in unserer kleinen Küche das traditionelle Weihnachtskarpfen-Essen mit der ganzen Familie und danach mein Staunen vor dem, mit brennenden Kerzen und Sternspuckern erleuchteten Weihnachtsbaum mit anschließender Bescherung. Und schließlich gingen wir alle miteinander, so wie jedes Jahr, in die Weihnachtsmette gleich nebenan in der Pouthon-Kirche.
Als wir zurückkamen, hatten wir gleich das Gefühl, dass irgendetwas
nicht stimmte. Und so war es auch. Als wir nämlich das Schlafzimmer betraten,
blieb uns vor Staunen der Mund offen. Denn der Weihnachtsbaum war übersäht mit unseren
weißen Mäusen!
Sie hatten offenbar die vielen guten Sachen gerochen und sich gemeinsam einen Weg aus ihrer, wahrscheinlich vom Mäuseurin schon etwas feucht gewordenen Schachtel gebahnt. Und die kurze Zeit hatte ihnen genügt, um bei allen Windbäckereinen die untere Hälfte der dicken Ringe wegzufressen, sodass jetzt nur mehr „Wind-Kipferln“ am Christbaum hingen.
Die ganze Sache hatte aber auch etwas Gutes. Denn nun fiel es mir viel leichter, endlich loszulassen und einzusehen, dass es nach dieser Invasion wirklich höchste Zeit war, mich von meinen kleinen, weißen Freunden für immer zu verabschieden.