„In dem kleinen harten Kripplein“
Dezember 1947: In Sibirien fallen die Temperaturen auf minus 52 Grad. Schwere Schneestürme über Österreich führen zu Störungen im Transportverkehr. Aus den USA treffen täglich 100 000 Weihnachtspakete für Europa ein und US-amerikanische Besatzungssoldaten veranstalten überall in Deutschland Weihnachtsfeiern für Kinder.
An einen Weihnachtsfeier mit US-Besatzern kann ich mich nicht erinnern, wohl aber an die turbulenteste Adventzeit meines Lebens. Denn mein Vater war auf die grandiose Idee gekommen, mir – dem damals 4-jährigen Karli – ein 14 Strophen langes Weihnachtsgedicht zu lernen: „In dem kleinen harten Kripplein“.
Mein Vater gab sich jedoch nicht damit zufrieden, dass ich das endlos lange Gedicht „nur“ auswendig konnte und es dann – so wie die meisten Kinder in meinem Alter – einfach so herunterleierte. Nein, er zeigte mir mit Engelgeduld immer wieder vor, wie ich es mit allen Variationen meiner Stimme (leiste – laut, schnell – langsam, hoch – tief, etc.) und all meiner kindlich, herzigen Gestik und Mimik vortragen sollte.
Und siehe da: nach unzähligen Wiederholungen war ich schließlich trotz meines zarten Alters ein echt Vortragskünstler geworden. Doch das war erst der Anfang vom Spiel, denn dem Lernen und Üben folgten dann jede Menge Auftritte von der ganzen Familie und schließlich auch öffentlich in allen Wirtshäusern, die mein Vater kannte.
Mein Vater stellte mich einfach auf den Wirtshaustisch und ließ mich dort meine Show abziehen. Und jedes Mal war die große Mehrheit der Wirtshausgäste total begeistert, was sie in frenetischem Applaus und kleinen Geschenken zum Ausdruck brachten.
Viel später habe ich dann oft darüber nachgedacht, was meinen Vater wohl so motiviert haben mag, dass er sich so viel Zeit für mich genommen hatte wie später in meinem ganzen Leben nicht mehr. Am ehesten war es wohl der Stolz über seine Leistung. Vielleicht war er aber auch stolz, einen Sohn zu haben, der schon mir vier Jahren – so wie er – ein ganzes Gasthaus unterhalten konnte.
Wie auch immer. Auf jeden Fall lernte ich durch sein Engagement
schon sehr früh, ohne Scheu und mit Begeisterung vor vielen Menschen zu reden.
Und das ist ein Schatz fürs ganze Leben, dessen Besitz ich vor allem meinem
Vater verdanke.